Namensartikel der EBD-Präsidentin Dr. Anna-Maija Mertens bei Table.Briefings | „German Vote“ – Europas Stillstand
Dr. Anna-Maija Mertens
Erschienen bei Table.Briefings am 17. Januar 2025.
Deutschlands Handlungsfähigkeit ist entscheidend für Europas Zukunft – und beides ist untrennbar verbunden. Unser Land hat massiv an Einfluss verloren, da es Europapolitik lange nur verwaltet hat, anstatt sie aktiv zu gestalten.
Dabei halten 80 % der Deutschen die Mitgliedschaft in der EU für sehr wichtig. Darüber hinaus sieht die Mehrheit mehr Vorteile als Nachteile in der EU, und bei jungen Menschen sind es sogar 70 %. Eine von der Europäischen Bewegung Deutschland e.V. (EBD) in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage belegt dies eindrucksvoll.
Doch die Mehrheit versteht laut der Umfrage die Funktionsweise der EU nicht. Von denjenigen, die angeben, sich für das politische Geschehen auf europäischer Ebene zu interessieren, sagen 48 %, dass ihnen Vieles unklar ist.
Es mangelt offensichtlich an europapolitischer Bildung und einem entsprechenden öffentlichen Diskurs – nicht nur in der Bevölkerung, bei Bildungsträgern und Medien, sondern offenbar auch auf Regierungsebene. Die Ressorts in Berlin agieren häufig uneinheitlich und ohne einen ausgeprägten europäischen Fokus. Selbst für Expertinnen und Experten in Redaktionen und der Wissenschaft bleibt oft unklar, welche Position Deutschland einnimmt. Die Konsequenz: Stillstand und ein Mangel an strategischen Führungsimpulsen.
Die Krise der deutschen Europapolitik
Die deutsche Europapolitik steht seit Jahren unter Kritik. Der Begriff „German Vote“ beschreibt nicht nur die häufige Enthaltung Deutschlands im Ministerrat, sondern auch die mangelnde Kommunikation und die Ineffizienz der größten Volkswirtschaft Europas im EU-Gesetzgebungsprozess.
Die Bundesregierung versäumt es häufig, frühzeitig klare Positionen zu formulieren – ein Versäumnis, das Deutschland isoliert, seinen Einfluss schwächt und die Handlungsfähigkeit Europas insgesamt beeinträchtigt.
Der Ablauf ist bekannt: Weisungen aus Berlin erreichen Brüssel oft zu spät oder gar nicht. In einem System, das auf frühzeitigen Allianzen basiert, verspielt Deutschland so wertvollen Einfluss und wird zu einem unberechenbaren Partner. Die Liste wird immer länger – von Glyphosat-Einsatz über e-Fuels bis hin zur europäischen Lieferkettenrichtlinie. Dies schürt Misstrauen bei anderen Mitgliedstaaten und erschwert die Entscheidungsfindung.
Lektionen aus Brüssel
Eine interne Analyse der Ständigen Vertretung Deutschlands in Brüssel aus dem Jahr 2023 zeigt klar: Wer frühzeitig Position bezieht, kann Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten sichern. Die Analyse des EU-Botschafters verdeutlicht, dass widersprüchliche Signale und späte Änderungen Deutschlands Reputation schaden und Allianzen erschweren.
Besonders kleine Mitgliedstaaten orientieren sich an Deutschland, was eine strategische Führungsrolle ermöglicht. Auch die Spitzenverbände der Europäischen Bewegung Deutschland wissen um die Mängel. Sie forderten vor der Europawahl 2024 eine stärkere strategische europäische Positionierung. Diese Forderung stärkt die Verlässlichkeit der EU-Politik und die Glaubwürdigkeit Deutschlands im Gesetzgebungsprozess.
Ein historisches Versäumnis
Das Problem liegt auch in den Strukturen: Die deutsche Europakoordinierung ist ineffizient. Zuständigkeiten sind zwischen Ministerien aufgeteilt, und Ressortegoismen lähmen strategisches Handeln.
Die Verantwortung für Europapolitik ist seit den Anfängen der europäischen Integration mehr oder weniger zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt aufgeteilt. Doch statt einer Anpassung an die heutige Realität hat sich ein ineffizientes Netz aus Zuständigkeiten und Gremien entwickelt, das strategisches Handeln behindert.
Aus rein historischen Gründen bezieht die Bundesregierung in ihrer Europakoordinierung unverständlicherweise auch nicht den Europarat ein, der Grundlagen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit definiert und damit die Integrationslandschaft des freiheitlichen Europas bildet.
Was sich ändern muss
Es ist höchste Zeit für eine Reform der deutschen Europakoordinierung. Die Europäische Bewegung Deutschland hat hierzu früh konkrete Vorschläge entwickelt:
Frühzeitige Positionierung:
Die Bundesregierung muss einen eigenen Kompass haben und sich bereits vor, mindestens jedoch kurz vor Kommissionsvorschlägen abstimmen. Verbindliche Fristen eines wachsamen Parlaments könnten den Druck erhöhen, rechtzeitig Positionen zu entwickeln. Achtung Framing: Wir brauchen keine „Frühwarnung“ vor einer „Brüsseler Schlechtwetterfront“!
Zentrale Koordinierung:
Eine zentrale Koordinierungseinheit ist erforderlich, die die Arbeit der Ständigen Vertretung bei der EU ressortübergreifend widerspiegelt und anleitet. Sie muss ein einheitliches Handeln gewährleisten, strategische Impulse setzen und mit klar definierten Kompetenzen ausgestattet sein, um effektiv agieren zu können.
Politische Verantwortung:
Wir brauchen ein Europakabinett, das eine zentrale Rolle in der strategischen Ausrichtung und im Zusammenhalt übernimmt. Es sollte nicht nur die technische Koordinierung effizient steuern, sondern auch europapolitischen Zusammenhalt in der Regierung mit europaweiter Wirkung fördern.
Die Herausforderungen
Die Herausforderungen – von der Klimakrise über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bis hin zur EU-Reform, um die Erweiterung der EU zu gewährleisten – erfordern eine proaktive und verantwortungsvolle Europapolitik.
Der „German Vote“ darf nicht länger Synonym für Stillstand und Ineffizienz sein. Deutschland muss sich seiner Verantwortung für das grundgesetzliche Staatsziel Europa bewusst werden und endlich einen strategischen Europaplan entwickeln.
Die Zukunft Europas steht auf dem Spiel – und mit ihr die Zukunft Deutschlands.
Zum vollständigen Beitrag bei Table.Briefings: https://table.media/europe/standpunkt/standpunkt-german-vote-europas-stillstand/