Nachgefragt bei… Dragana Đurica
Beim Format "Nachgefragt bei..." kommen regelmäßig europäische Stimmen in Form eines Kurzinterviews zu Wort. Angesichts der anhaltenden Proteste in Serbien, der angespannten politischen Lage und der Debatte über den europäischen Kurs des Landes haben wir Dragana Đurica, Generalsekretärin der Europäischen Bewegung Serbien und Mitglied des Vorstands der Europäischen Bewegung International, eingeladen, mit uns über die aktuelle Situation in Serbien, die Rolle der EU und die Perspektiven des europäischen Integrationsprozesses zu sprechen.

Frau Đurica, in In Serbien kommt es seit geraumer Zeit zu anhaltenden Protesten gegen die Regierung. Was sind die Hauptgründe für diese Demonstrationen, und wer treibt sie an?
Dragana Đurica: Die Proteste spiegeln eine tiefe und über Jahre gewachsene Frustration über den Abbau demokratischer Institutionen, die Vereinnahmung der Medien, Korruption und das Fehlen von Rechenschaftspflicht im öffentlichen Leben wider. Der Einsturz des frisch renovierten Bahnsteigdachs des Bahnhofs Novi Sad am 1. November 2024 wurde zum Wendepunkt – er wurde als Mikrokosmos eines korrupten Systems wahrgenommen und löste von Studierenden angeführte Proteste aus, die bis heute landesweit andauern und denen sich Professorinnen und Professoren, Berufsverbände, Bürgerinnen und Bürger sowie lokale Gemeinschaften angeschlossen haben.
Die Proteste überschreiten Parteigrenzen – es geht nicht um Ideologie, sondern um die Wiederherstellung von Normalität, Verantwortung und öffentlichem Vertrauen. Ein tragisches Ereignis machte ein staatsvereinnahmtes System sichtbar, das Macht konzentriert und Demokratie geschwächt hat – und die Bürgerinnen und Bürger sind nicht länger bereit, dies hinzunehmen.
Welche Rolle spielt die Europäische Union in dieser Situation? Kann sie konstruktiv Einfluss nehmen – oder würden Sie sagen, dass auch die EU und Deutschland aufgrund ihrer bisherigen Politik eine gewisse Mitverantwortung tragen?
Dragana Đurica: Der Einfluss der EU in Serbien ist real, wurde jedoch durch Jahre der sogenannten Stabilokratie und transaktionaler Beziehungen geschwächt. Indem die EU eine lediglich deklaratorische politische Ausrichtung akzeptierte und die demokratische Erosion übersah, hat sie leider ihre Glaubwürdigkeit in Serbien geschmälert.
Wir glauben, dass ein Neustart möglich ist – aber Brüssel und Berlin müssen nun ihre Glaubwürdigkeit neu bewerten. Das bedeutet, den Schwerpunkt von elitengetriebenen Absprachen hin zu den Bürgerinnen und Bürgern, zu Meritokratie sowie zu konkreten Reformen und deren positiven Auswirkungen zu verlagern. Konditionalität muss wieder echt und wirksam werden – nicht nur rhetorisch –, und sie muss direkt mit Fortschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, fairen Wahlen und der Angleichung an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU verknüpft sein.
Serbien ist seit über einem Jahrzehnt offizielles EU-Beitrittskandidatenland. Welche Bedeutung hat der Beitrittsprozess im aktuellen Kontext? Angesichts der Defizite bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – wäre es da nicht konsequent, die Verhandlungen einzufrieren?
Dragana Đurica: Der EU-Beitrittsprozess ist Serbiens wichtigster Rahmen für Reform, Modernisierung und Europäisierung – doch seine Glaubwürdigkeit ist leider geschwächt. Das eigentliche Problem liegt nicht im Prozess selbst, sondern darin, dass er ausgehöhlt wurde und sich in ein Ritual von Formalitäten (und letztlich Stillstand) verwandelt hat – anstatt die positiven Veränderungen zu bewirken, für die er ursprünglich gedacht war.
Ein Einfrieren der Verhandlungen mag prinzipientreu erscheinen, wäre jedoch zutiefst kontraproduktiv und würde die Bürgerinnen und Bürger bestrafen – nicht diejenigen, die an der Macht sind. Was Serbien braucht, ist keine Aussetzung, sondern eine Wiederbelebung: einen glaubwürdigen, leistungsorientierten Prozess, der echten Fortschritt belohnt und Rückschritte sanktioniert.
Die Wiederverknüpfung der Erweiterung mit demokratischer Erneuerung – und eine offene, ehrliche Kommunikation darüber mit den Bürgerinnen und Bürgern – ist der einzige Weg, um das Vertrauen sowohl in Serbiens europäischen Weg als auch in das transformative Versprechen der EU wiederherzustellen.
Welche Rolle spielt die Europäische Bewegung in Serbien in dieser angespannten Situation? Welche Reaktionen und Rückmeldungen erhalten Sie aus der Gesellschaft und von politischen Akteuren?
Dragana Đurica: Die Europäische Bewegung in Serbien fungiert als Brücke zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Institutionen, EU-Partnern und Stakeholdern – und sollte idealerweise dieselbe Rolle auch zwischen den Bürgerinnen und ihren eigenen staatlichen Institutionen spielen. Diese zweite Rolle wird jedoch zunehmend durch die Diskreditierung und Marginalisierung zivilgesellschaftlicher Akteure durch die Behörden eingeschränkt.
In einem polarisierten Umfeld verteidigen wir die Integrität der europäischen Idee in Serbien: Wir liefern glaubwürdige Informationen, fördern den Dialog und setzen uns aktiv für die EU-Integration ein.
Das Feedback aus der Bevölkerung ist stark unterstützend – viele sehen in uns einen Akteur, mit dem sie über Europa sprechen können, ohne Propaganda-Filter. Die politischen Reaktionen sind gemischt, doch unsere Loyalität gilt den Prinzipien, nicht dem Komfort.
Wie kann die Europäische Bewegung in Serbien konkret dazu beitragen, dass europäische Grundwerte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleiben und der europäische Integrationsprozess des Landes neuen Schwung erhält?
Dragana Đurica: Wir verbinden politische Interessenvertretung, Reformvorschläge und Bürgerbeteiligung mit unserem starken intellektuellen Kapital, unserer Expertise, unserem breiten Netzwerk und der Energie der Jugend. Unsere Mission ist es, die europäische Integration im Alltag der Bürgerinnen und Bürger spürbar zu machen – indem wir demokratische Prinzipien in gelebte Realität umsetzen und sicherstellen, dass Serbiens europäischer Weg nicht nur verkündet, sondern auch tatsächlich umgesetzt wird.
Zudem arbeiten wir eng mit den übrigen Ländern des westlichen Balkans zusammen, da wir uns der regionalen Kooperation und unserer gemeinsamen europäischen Zukunft zutiefst verpflichtet fühlen.