Nachgefragt bei… Marie von Manteuffel

Mit dem Format „Nachgefragt bei…“ kommen regelmäßig europapolitische Stimmen in Form eines Kurzinterviews zu Wort.
Anlässlich der Preisverleihung diese Woche haben wir die Preisträgerin des „Preis Frau Europas 2025“ Marie von Manteuffel eingeladen, mit uns über ihre Perspektiven zur europäischen Migrations-Politik und ihre Rolle in der Förderung der europäischen Zusammenarbeit zu sprechen.
Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung als Frau Europas 2025! Der Preis „Frau Europas“ zeichnet Frauen aus, welche sich für ein starkes, vereintes Europa einsetzen. Was wünschen Sie sich für die Zukunft Europas?
Marie von Manteuffel: Europa ist für mich ein Versprechen: das Versprechen einer Gemeinschaft in Freiheit, Frieden und kultureller Vielfalt, die für die Einhaltung ihrer Grundrechtecharta einsteht. Dieses Versprechen geht hervor aus dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, aus dem Leid zweier Weltkriege und dem Terror des Nationalsozialismus. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind bereit, Souveränität abzugeben, um als Union in einer multipolaren Welt eine echte Rolle zu spielen. Aber das geht nur gemeinsam. Ich wünsche mir, dass Europa sich dieser Kernüberzeugung rückversichert und sich gegen den allgemeinen Trend stemmt, wonach sich andere Länder international zurückziehen und Autokratien und Nationalismus an Boden gewinnen. Ein glaubwürdiges Europa, dass sich seiner Werte bewusst ist und ihnen treu bleibt wird international dringend gebraucht. Ein glaubwürdiges Europa kann als Makler für eine regelbasierte internationale Ordnung einstehen, für Menschenrechtsschutz und für Werte, die nicht einfach verdealt werden. Ein entkerntes Europa hingegen wird schnell Gefahr laufen, vom geopolitischen Subjekt zum Objekt zu werden.
Wie schätzen Sie die aktuellen Entwicklungen zu Ihrem Schwerpunktthema Migration der letzten Monate ein?
Marie von Manteuffel: Das Thema war in den letzten Monaten stark durch die Polarisierung des deutschen Wahlkampfs geprägt und eine solche emotionale Debatte hilft selten, um eine inhaltlich gute und tragfähige Politik zu formulieren. Aber es geht nicht nur um die letzten Monate. Die großen Linien seit 2015 sind wirklich besorgniserregend. Wir sind damals beispielsweise von einer Situation gestartet, in der die italienische Küstenwache im zentralen Mittelmeer in gegenseitigem Respekt und Kooperation mit NGOs Seenotrettung betrieben haben. Gelandet sind wir nun in einer politischen Atmosphäre, in der Seenotretter seit Jahren kriminalisiert werden und das Ertrinken von Menschen politisch willentlich in Kauf genommen wird, wo über Jahre hinweg systematische Grenzgewalt entlang der EU-Außengrenzen dokumentiert wird, von Polen bis nach Griechenland. Menschen sterben an diesen, unseren Grenzen, ohne dass die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge jemals wirklich eingeschritten wäre. Nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gesundheit oder Leben der Schutzsuchenden scheint verteidigt zu werden, nicht das individuelle Asylrecht, sondern innenpolitische Motive.
Mein Eindruck ist, dass die viel beschriebene Angst vor dem Erstarken rechtsextremistischer Kräfte zu einer Politik geführt hat, in der wesentliche internationale Rechte und Menschenrechtsschutz in der Hoffnung auf kurzfristige politische Gewinne geopfert werden. Damit bedienen Parteien der politischen Mitte viel zu oft genau diejenigen rechten Narrative, welche den Rechtsruck selbst vorantreiben. Im Ergebnis wurde für die Betroffenen nichts gewonnen, den Rechtsruck hat man nicht verhindert, während Europa seine Werte auf's Spiel setzt und dafür in vielen Ländern seine Glaubwürdigkeit verloren hat.
Sie haben aus nächster Nähe die humanitären Folgen der europäischen Migrationspolitik beobachtet. Nun gibt es eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die zeitnah umgesetzt werden soll. Wie sehen Sie die Reform bzw. wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen?
Marie von Manteuffel: Die GEAS-Reformen sind ein Kompromiss und Elemente wie der Mechanismus der lediglich flexiblen Solidarität oder Schnellverfahren an den Außengrenzen sehe ich kritisch. Ich kenne kein Beispiel, wo die Auslagerung, um nicht zu sagen Abwälzung von Zuständigkeiten für Verfahren und für die Versorgung von Menschen zu einer praktikablen und humanitär akzeptablen Umsetzung geführt hätte. Dennoch plädiere ich für eine zügige und möglichst menschenrechtskonforme Implementierung der nunmal verabschiedeten Reformen. Denn was die EU sich nach knapp zehn Jahren politischer Hängepartie nicht leisten kann, ist eine nationalstaatlich betriebene Kakophonie in der Implementierung.
Eher von Ideologie als von Fachkenntnis getrieben scheinen mir einige Debatten zu sein, die zum Teil leider auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung Widerhall finden. Demnach sollen Asylbewerber*innen nach negativ verlaufenem Schnellverfahren in Drittstaaten zurückgeführt werden können, ohne dass die betroffene Person auch nur irgendeinen Bezug zu diesem Land hat. Wie lebensfremd! Als ob sich so etwas in großem Stil erfolgreich umsetzen ließe und Menschen sich wie Schachfiguren hin und herverfrachten lassen würden. Zugleich sollen die ohnehin viel zu geringen Plätze für humanitäre Aufnahmeprogramme oder Resettlement von besonders vulnerablen Menschen ganz eingestellt werden.
In kaum einem Politikfeld liegen wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Forderungen so weit auseinander. Natürlich unterstütze ich das Anliegen, Kontrolle über die eigenen Grenzen haben zu wollen und die Kommunen nicht zu überlasten. Aber schutzsuchende Menschen sind aus meiner Sicht lediglich ein Katalysator für strukturelle Defizite unseres Rechts- und Sozialstaats und nicht der Grund dafür. Zehn Jahre Abschottungspolitik sollten doch genügend Beweis dafür sein, dass man mit derlei Parolen nicht etwa die Ankunftszahlen senkt, sondern nur das Leid der Ankommenden vergrößert, ihren Zustand verschlechtert und damit Integration erschwert. Es braucht eine Migrationspolitik, die von den Menschen her denkt.
Sie haben sowohl in Krisengebieten als auch in politischen Gremien gearbeitet. Welche Erfahrung hat Ihr Bild von Europa am stärksten geprägt?
Marie von Manteuffel: Am stärksten wurde mein Bild von Europa wohl von der Widersprüchlichkeit geprägt, die mir während meines Einsatzes für Ärzte ohne Grenzen in Libyen verdeutlicht wurde. Mehrmals die Woche ging ich in die berüchtigten Internierungslager, u.a. um Menschen zu identifizieren, die unter den vielen Schutzbedürftigen am vulnerabelsten waren und für deren Resettlement wir uns gegenüber der UN und westlichen Botschaften einsetzen würden. Ich sprach mit so vielen Menschen, wie mir in diesem heiklen Rahmen möglich war, mit hochschwangeren Frauen, alleinreisenden Frauen mit kleinen Kindern, mit Überlebenden von Folter oder sexualisierter Gewalt, oftmals minderjährig und ohne Familie. Viele hatten kein klares Bild von ihrem Ziel. Kein geografisches zumindest. Bei weitem nicht alle wollten überhaupt nach Europa. Sehr klar war nur, nach welchen Werten sie sich sehnten: nach Schutz und Sicherheit für sich aber v.a. für ihre Familie, nach dem Versprechen, das ich oben beschrieb. Dieses Versprechen erschien vielen als stark und mächtig. Zugleich scheiterten wir ständig an der Ohnmacht der europäischen Botschaften. Auch für die haarsträubendsten Fälle, für die sich teilweise engagierte Botschaftsmitarbeiter*innen persönlich einsetzten, schienen die bürokratischen und politischen Vorgaben keinen Raum für Unterstützung zu bieten.
Für mich folgt daraus: das Versprechen einer wertegeleiteten Gemeinschaft entfaltet vor allem dann seine Wirkungsmacht, wenn wir weiter an seiner konsequenten Umsetzung arbeiten.