Nachgefragt bei… S.E. Botschafter Geert Muylle
Mit dem Format „Nachgefragt bei“ kommen regelmäßig europapolitische Stimmen in Form eines Kurzinterviews zu Wort. Heute heißt es mit dem Fokus auf die belgische EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr 2024: Nachgefragt bei … S.E. Geert Muylle, Botschafter des Königreichs Belgien in der Bundesrepublik Deutschland.
Herr Botschafter Muylle, am 1. Januar 2024 übernimmt das Königreich Belgien von Spanien die EU-Ratspräsidentschaft für sechs Monate. Was sind die wichtigsten Themen im Programm des Vorsitzes Belgiens?
„Unsere Präsidentschaft fällt in einem herausfordernden politischen und gesellschaftlichen Kontext, da im Juni auch die Europawahl und die belgischen Wahlen stattfinden. Sie werden unsere Präsidentschaft prägen.
Unsere erste Aufgabe besteht darin, die laufenden Dossiers der Legislaturperiode 2019-2024 so gut wie möglich abzuschließen. Wir werden dabei versuchen, unserem Ruf als Meisters des Kompromisses gerecht zu bleiben.
Über die legislative Agenda hinaus muss sich unser Blick auf die Zukunft richten: wie sollte sich die EU aufstellen, damit sie die Herausforderungen von morgen bewältigen kann. Der Zeithorizont geht hier über die strategische Agenda 2024-2029 hinaus, die auf dem Europäischen Rat im Juni angenommen werden soll.
Beide Aufgaben wurden in sechs umfassenden transversalen Themen und Prioritäten ausgearbeitet:
- Erstens, die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Einheit. Dies ist sowohl für den inneren Zusammenhalt als auch für den Erweiterungsprozess maßgebend ;
- Zweitens, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, sowohl innerhalb Europas als auch weltweit, ist von entscheidender Bedeutung. Stichwörter hier sind: Innenmarkt, level playing field, die Ausarbeitung einer zukunftsorientierten Industriepolitik;
- Drittens werden wir weiterhin einen grünen und gerechten Übergang anstreben und uns weiterhin auf die Umsetzung des Green Deals konzentrieren;
- Viertens wollen wir die Sozialsicherheits- und Gesundheitssystemen stärken. Prominent hier sind die bessere Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit und der Arzneimittelgesetzgebung;
- der Schutz der Menschen und der Grenzen ist der fünfte transversale Schwerpunkt unseres Programms. Wir werden uns mit den verbleibenden Arbeiten am Migrations- und Asylpaket und der externen Dimension von Migration und Asyl befassen;
- und schließlich, sechstens, wollen wir das globale Europa fördern, wobei die Konflikte in der Ukraine und zwischen Israel und Hamas, aber auch z.B. die europäische Partnerschaft mit Afrika, unsere Aufmerksamkeit erfordern werden.“
Wir schauen heute zurück in das Jahr 2004, in dem die größte EU-Erweiterung stattfand. Seitdem sind 20 Jahre vergangen. Nun gibt es eine neue Dynamik im Erweiterungsprozess. Welche Prioritäten setzt der Vorsitz Belgiens für den weiteren Umgang der EU mit den Beitrittskandidaten hinsichtlich der Ergebnisse des Gipfels und welche konkreten Schritte können in Ihrer Ratspräsidentschaft gegangen werden?
„Unsere Präsidentschaft wird im Lichte der Erklärung von Granada und der Tagung des Europäischen Rates im Dezember das Erweiterungsdossier genau verfolgen und begleiten.
Belgien unterstützt die Erweiterungsperspektive und erkennt ihre geostrategische Bedeutung an, aber geopolitische Erwägungen sollten kein Grund sein, einen „merits based approach“ in Frage zu stellen. Dieser „merits based approach“ (d.h. keine Abkürzungen) gilt während des gesamten Beitrittsprozesses und für alle Kandidatenländer. Die Kopenhagener Kriterien werden also weiterhin streng angewandt und die Aufnahmekapazität der EU muss berücksichtigt werden.
Der informelle Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ (29.-30. April 2024) wird sich mit der EU-Erweiterung befassen. Alle Erweiterungsländer werden dazu eingeladen. Am Vorabend wollen wir in Brüssel auch den 20. Jahrestag der großen Erweiterungswelle von 2004 feiern.“
Eng mit der Erweiterung verbunden ist auch die Debatte um die Reform der EU. Was sind hier die Ziele ihrer Ratspräsidentschaft? Können die Bürgerinnen und Bürger im Jahr der Europawahl auch mit einer zukünftigen Stärkung des Europaparlaments rechnen?
„Die Reform der Union ist eine Diskussion, die mit der Erklärung von Granada und den Schlussfolgerungen des letzten Europäischen Rates im Dezember eindeutig eingeleitet wurde. Wir haben also die Verpflichtung, die Arbeit fortzusetzen und darüber zu reflektieren führen, was wir gemeinsam tun wollen, insbesondere in Bezug auf die europäische Politik, ihre Finanzierung und unsere Institutionen und Entscheidungsprozesse.
Unser Endziel muss eine entschlossene, effiziente Union mit klaren Ambitionen und Politiken und besseren Entscheidungsprozessen sein.
Der Europäische Rat wird sich auf seinen nächsten Tagungen mit internen Reformen befassen, um bis zum Sommer 2024 Schlussfolgerungen zu einem Fahrplan für die künftige Arbeit zu verabschieden. Bis dahin wird das Thema auf die Tagesordnung des Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ gesetzt werden, und wir werden auch eine Reihe von Veranstaltungen auf Expertenebene organisieren.“
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