Parlamentarismus und pluralistische Demokratie stärken

Für die gesellschaftliche Stabilität ist es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht auf Distanz zu den Institutionen gehen. Das betrifft die nationalstaatlichen ebenso wie die europäischen. Umso dringender müssen politische Akteurinnen und Akteure auf allen Ebenen Vertrauen zurückgewinnen. Denn eine lebendige und vertrauenswürdige europäische Demokratie braucht starken Parlamentarismus und Pluralismus.

Mut zur Umsetzung notwendiger Reformen

Russlands Bruch mit der europäischen Friedensordnung und seine tiefgreifenden Auswirkungen zeigen auf, dass demokratische Handlungsweise und die institutionelle Architektur an die politischen Realitäten angepasst werden müssen. Dies gilt für die EU wie auch für den Europarat.

Angesichts der Bedrohungen für die europäischen Grundwerte von Innen und Außen muss die EU dringend handlungsfähiger und parlamentarischer gestaltet werden. Die im Jahr 2024 eingesetzte Dynamik um die Zukunft der EU und ihrer Reform muss weiter gestärkt und in konkreten Schritten vorangetrieben werden. Umso mehr bedauern wir, dass der Mut und die Entschlossenheit für notwendige institutionelle EU-Reformen bislang fehlen. So bleibt die Bundesregierung in der Umsetzung der 49 Vorschläge der Konferenz zur Zukunft Europas weit hinter ihren Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zurück. Enttäuschend ist ebenso, dass sich der Europäische Rat noch nicht einmal zum Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Initiierung eines Europäischen Konvents nach Art. 48 EUV geäußert hat. Gerade im Hinblick auf eine mögliche und erstrebenswerte Erweiterung der EU, muss sich diese institutionell unverzüglich so aufstellen, dass die EU auch mit 30+ Mitgliedsstaaten handlungsfähig bleibt.

Damit wichtige Vorschläge der Zukunftskonferenz trotzdem Realität werden, fordern wir unsere Mitgliedsparteien und ihre europäischen Parteienfamilien auf, den EU-Reformprozess in die Hand zu nehmen und die Ergebnisse der Zukunftskonferenz zur Grundlage des weiteren Reformprozesses und ihrer Arbeit zu machen. Wir fordern daher die Parteien auf, neben den Sektorpolitiken die institutionellen Fragen zur Stärkung der europäischen Demokratie und ihrer Handlungsfähigkeit dauerhaft prominent zu behandeln. In ihren Reformvorschlägen sollten die Parteien alle Möglichkeiten der bestehenden EU-Verträge, einschließlich der Passerelle-Klauseln und der Einberufung eines Europäischen Konvents, erörtern. Denn das Versprechen der Zukunftskonferenz, dass die Vorschläge in politischen Wandel münden, muss eine der Hauptaufgaben des neuen Europäischen Parlaments, der neuen Europäischen Kommission und nicht zuletzt der Mitgliedstaaten sein.

Europaparlament stärken und Mehrheitsentscheidungen im Rat ausweiten

Die Vorschläge der Zukunftskonferenz sehen explizit eine Stärkung des Europäischen Parlamentes vor. Wir fordern daher, das einzige von den Bürgerinnen und Bürgern direkt legitimierte EU-Organ mit einem Initiativrecht im Gesetzgebungsprozess auszustatten, sei es durch interinstitutionelle Vereinbarungen oder durch Vertragsänderungen.

Es ist ermutigend, dass zum zweiten Mal in der Geschichte der EU das Spitzenkandidatinnen-Prinzip zum Tragen gekommen ist. Denn die Europäische Kommission sollte glaubwürdig von einer nachhaltigen Koalitionsmehrheit im Europäischen Parlament getragen werden. Mit Nachdruck appellieren wir daher an die politischen Parteienfamilien, das Spitzenkandidatinnen und -kandidatenprinzip für das Präsidentschaftsamt der Europäischen Kommission weiter zu verfolgen und zu unterstützen. Denn es ist zentral für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, dass die Mitgliedstaaten den Wählerwillen respektieren und sie die Spitzenkandidatin oder den Spitzenkandidaten, die oder der die Mehrheit des Europäischen Parlaments auf sich vereinigt, als Kommissionspräsidentin oder -präsidenten benennen. Im Gegenzug sollte die EU das Recht des Europäischen Parlaments, einen Misstrauensantrag gegen die Kommission zu stellen, zu einem konstruktiven Misstrauensvotum weiterentwickeln.

Als notwendige Grundlage für das Spitzenkandidatensystem sehen wir ernsthafte Fortschritte hin zu einem einheitlichen Europäischen Wahlrecht. Dieses Versprechen muss zügig nachgeholt werden und spätestens zur Europawahl 2029 greifen. Transnationale Listen und grenzüberschreitender Wahlkreise halten wir innerhalb eines neuen Wahlrechts für sinnvoll und ermuntern, nach der Absenkung in Deutschland auch europaweit ein einheitliches Wahlalter ab 16 Jahren zu beschließen.

Für die EU als demokratische und handlungsfähige Gemeinschaft ist es schließlich wichtig, dass Entscheidungen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, also per Mehrheitsentscheidung im Europäischen Parlament und Rat, getroffen werden. Nationale Vetos eines einzelnen Mitgliedsstaates sind hiermit grundsätzlich nicht vereinbar und das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat muss daher eine gut begründete Ausnahme sein.

Europäische pluralistische Demokratie fördern

Die pluralistische Demokratie muss auf allen Ebenen, beginnend bei den Kommunen und den Ländern, gefördert werden. Dazu braucht es eine strukturelle Einbindung aller politischen Ebenen in die Gesetzgebungsverfahren im Sinne einer Mehrebenengovernance. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger brauchen bessere demokratische Beteiligungsmöglichkeiten in der EU, sondern auch institutionelle Entscheidungstragende und Interessengruppen. Dies schließt die Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente und die Beteiligung des Ausschusses der Regionen ein.

Demokratische Entscheidungsprozesse, wie z.B. in repräsentativen Verbänden und Vereinen, stärken das Verständnis für die Politik und die Legitimierung von Entscheidungen. Wir fordern daher, diese „Demokratie im Kleinen“ durch die Einführung eines europäischen Vereinsrechts und eines damit verbundenen europäischen Gemeinnützigkeitsstatuts zu festigen, und werden die Verhandlungen hierzu konstruktiv begleiten. Denn es braucht eine systematische Stärkung der Engagementpolitik und eine umfassende Strategie der Kommission zur Unterstützung gesellschaftlicher Kräfte in Europa. Ebenso sollte die EU-Projekte für Demokratieförderung und Extremismusprävention verlässlich und bedarfsorientiert fördern. Ähnlich wie das geplante Demokratiefördergesetz in Deutschland müssen die EU-Mitgliedstaaten hierfür gesetzliche Grundlagen schaffen.

Zur Erleichterung der europaweiten Verständigung und zur besseren Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der europäischen Demokratie muss sowohl in der Außenkommunikation als auch in der visuellen Außendarstellung der EU-Institutionen die europäische Sprachenvielfalt berücksichtigt werden. Beteiligungsmöglichkeiten dürfen nicht durch sprachliche Hürden behindert und entscheidungsrelevante Dokumente müssen in allen Amtssprachen der EU veröffentlicht werden.

Demokratische Strukturen des Europarats stärken

Neben der EU muss aber auch der Europarat fit für die Zukunft gemacht werden. Schließlich sind in dieser Zeit des Krieges und des Erstarkens antidemokratischer Bewegungen die Ziele des Europarates zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wichtiger denn je. Jetzt, da Russland den Europarat verlassen musste, bietet sich eine Gelegenheit für Reformen zur Stärkung der demokratischen DNA der Institution. Bisher zögerliche Mitgliedsstaaten müssen hiervon weiter überzeugt werden. Der Reformprozess sollte sich jedoch nicht auf eine inhaltliche Neuausrichtung, sondern auf die Stärkung der bestehenden Säulen konzentrieren. Ebenso fordern wir die Bundesregierung auf, sich für den Beitritt des Kosovos zum Europarat einzusetzen.

Mit der gemeinsamen „Erklärung von Reykjavík“ haben die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs im vergangenen Jahr wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Arbeit des Europarats gesetzt. Wir setzen uns nun für eine konkrete Umsetzung, insbesondere der Reykjavik Principles for Democracy, ein. Eine essentielle Grundvoraussetzung zum Gelingen des Reformprozesses ist, dass die Mitgliedstaaten die Mittel für den chronisch unterfinanzierten Europarat aufstocken und in Zukunft besser sicherstellen, dass sie alle die Empfehlungen des Europarates, die Konventionen und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vollständig umsetzen. Obwohl der Europarat bereits ein bedeutsamer Akteur bei der Stärkung und dem Aufbau unabhängiger, demokratisch verfasster und repräsentativer gesellschaftlicher Kräfte ist, sollte zudem die Zusammenarbeit mit Verbänden, Vereinen, Regionen und Kommunen noch weiter intensiviert werden.

Denn die Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen führt Europa zusammen. Ein Beispiel ist die Jugendabteilung des Europarats. Von den Europäischen Jugendzentren kommen wichtige Impulse, sei es gegen Hassrede im Internet, dem Kampf um Meinungs- und Versammlungsfreiheit, in Fragen der Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen, der Geschlechtergerechtigkeit, oder bei Fragen der Auseinandersetzung mit Geschichte. Die Arbeit der Jugendabteilung sollte deshalb weiter politisch und finanziell gestärkt werden. Deutschland sollte zudem der Beobachtungsstelle zum Geschichtsunterricht beitreten.

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