Parlamentarismus und pluralistische Demokratie stärken
Für die gesellschaftliche Stabilität ist es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht auf Distanz zu den Institutionen gehen. Das betrifft die nationalstaatlichen ebenso wie die europäischen. Umso dringender müssen politische Akteurinnen und Akteure auf allen Ebenen Vertrauen zurückgewinnen. Denn eine lebendige und vertrauenswürdige europäische Demokratie braucht starken Parlamentarismus und Pluralismus.
Mut zur Umsetzung notwendiger Reformen
Russlands Bruch mit der europäischen Friedensordnung und seine tiefgreifenden Auswirkungen zeigen auf, dass demokratische Handlungsweise und die institutionelle Architektur an die politischen Realitäten angepasst werden müssen. Dies gilt für die EU wie auch für den Europarat.
Schließlich sind in dieser Zeit des Krieges und des Erstarkens antidemokratischer Bewegungen die Ziele des Europarates zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wichtiger denn je. Jetzt, da Russland den Europarat verlassen musste, bietet sich eine Gelegenheit für Reformen zur Stärkung der demokratischen DNA der Institution. Der Reformprozess sollte sich jedoch nicht auf eine inhaltliche Neuausrichtung, sondern auf die Stärkung der bestehenden Säulen konzentrieren.
Am 16. und 17. Mai fand der vierte Europaratsgipfel in Reykjavik statt. Mit ihrer gemeinsamen Erklärung haben die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Arbeit des Europarats gesetzt. Wir setzen uns nun für eine konkrete Umsetzung, insbesondere der Reykjavik Principles for Democracy, ein. Eine essentielle Grundvoraussetzung zum Gelingen des Reformprozesses ist, dass die Mitgliedstaaten die Mittel für den chronisch unterfinanzierten Europarat aufstocken und in Zukunft besser sicherstellen, dass sie alle die Empfehlungen des Europarates, die Konventionen und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vollständig umsetzen. Obwohl der Europarat bereits ein bedeutsamer Akteur bei der Stärkung und dem Aufbau unabhängiger, demokratisch verfasster und repräsentativer gesellschaftlicher Kräfte ist, sollte zudem die Zusammenarbeit mit Verbänden, Vereinen, Regionen und Kommunen noch weiter intensiviert werden.
Denn die Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen führt Europa zusammen. Ein Beispiel ist die Jugendabteilung des Europarats. Von den Europäischen Jugendzentren kommen wichtige Impulse, sei es gegen Hassrede im Internet, dem Kampf um Meinungs- und Versammlungsfreiheit, in Fragen der Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen, der Geschlechtergerechtigkeit, oder bei Fragen der Auseinandersetzung mit Geschichte. Die Arbeit der Jugendabteilung sollte deshalb weiter politisch und finanziell gestärkt werden. Deutschland sollte zudem der Beobachtungsstelle zum Geschichtsunterricht beitreten.
Neben dem Europarat muss dringend die EU handlungsfähiger und parlamentarischer gestaltet werden. Umso mehr bedauern wir, dass der Mut und die Entschlossenheit für notwendige institutionelle EU-Reformen fehlen. So bleibt die Bundesregierung in der Umsetzung der 49 Vorschläge der Konferenz zur Zukunft Europas weit hinter ihren Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zurück. Enttäuschend ist ebenso, dass sich der Europäische Rat noch nicht einmal zum Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Initiierung eines Europäischen Konvents nach Art. 48 EUV geäußert hat.
Damit wichtige Vorschläge der Zukunftskonferenz trotzdem Realität werden, fordern wir unsere Mitgliedsparteien und ihre europäischen Parteienfamilien auf, den EU-Reformprozess in die Hand zu nehmen und die Ergebnisse der Zukunftskonferenz zur Themengrundlage für die Europawahl 2024 zu machen. Wir fordern daher die Parteien auf, neben den Sektorpolitiken die institutionellen Fragen zur Stärkung der europäischen Demokratie und ihrer Handlungsfähigkeit im Wahlkampf prominent zu behandeln. In ihren Reformvorschlägen sollten die Parteien alle Möglichkeiten der bestehenden EU-Verträge, einschließlich der Passerelle-Klauseln und der Einberufung eines Europäischen Konvents, erörtern. Denn das Versprechen der Zukunftskonferenz, dass die Vorschläge in politischen Wandel münden, muss ab 2024 Hauptaufgabe des neuen Europäischen Parlaments, der neuen Europäischen Kommission und nicht zuletzt der Mitgliedstaaten sein.
Europaparlament stärken und Mehrheitsentscheidungen im Rat ausweiten
Die Vorschläge der Zukunftskonferenz sehen explizit eine Stärkung des Europäischen Parlamentes vor. Wir fordern daher, das einzige von den Bürgerinnen und Bürgern direkt legitimierte EU-Organ mit einem Initiativrecht im Gesetzgebungsprozess auszustatten, sei es durch interinstitutionelle Vereinbarungen oder durch Vertragsänderungen.
Die nächste Europäische Kommission muss glaubwürdig von einer Koalitionsmehrheit im Europäischen Parlament getragen werden. Mit Nachdruck appellieren wir daher an die politischen Parteienfamilien, für die Europawahl 2024 Spitzenkandidatinnen und - kandidaten für das Präsidentschaftsamt der Europäischen Kommission aufzustellen, die sie dieses Mal durch den gesamten Prozess – besonders bei der Benennung im Europäischen Rat und bei der Wahl im Europäischen Parlament – unterstützen. Denn als Lehre aus der letzten Europawahl ist es zentral für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, dass die Mitgliedstaaten den Wählerwillen respektieren und sie die Spitzenkandidatin oder den Spitzenkandidaten, die oder der die Mehrheit des Europäischen Parlaments auf sich vereinigt, als Kommissionspräsidentin oder -präsidenten benennen. Im Gegenzug sollte die EU das Recht des Europäischen Parlaments, einen Misstrauensantrag gegen die Kommission zu stellen, zu einem konstruktiven Misstrauensvotum weiterentwickeln.
Als notwendige Grundlage für das Spitzenkandidatensystem sehen wir ernsthafte Fortschritte hin zu einem einheitlichen Europäischen Wahlrecht. Mit großem Bedauern müssen wir jedoch feststellen, dass der Rat es wieder nicht geschafft hat, rechtzeitig zur kommenden Europawahl eine Einigung zum EP-Vorschlag zur Wahlrechtsreform zu erzielen. Umso wichtiger ist, dass dieses Versprechen mit Blick auf die Europawahl 2029 nachgeholt wird. Transnationale Listen und grenzüberschreitender Wahlkreise halten wir innerhalb eines neuen Wahlrechts für sinnvoll und ermuntern, nach der Absenkung in Deutschland auch europaweit ein einheitliches Wahlalter ab 16 Jahren zu beschließen.
Für die EU als demokratische und handlungsfähige Gemeinschaft ist es schließlich wichtig, dass Entscheidungen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, also per Mehrheitsentscheidung im Europäischen Parlament und Rat, getroffen werden. Nationale Vetos sind hiermit grundsätzlich nicht vereinbar und das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat muss daher eine gut begründete Ausnahme sein.
Europäische pluralistische Demokratie fördern
Die pluralistische Demokratie muss auf allen Ebenen, beginnend bei den Kommunen und den Ländern, gefördert werden. Dazu braucht es eine strukturelle Einbindung aller politischen Ebenen in die Gesetzgebungsverfahren im Sinne einer Mehrebenengovernance. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger brauchen bessere demokratische Beteiligungsmöglichkeiten in der EU, sondern auch institutionelle Entscheidungstragende und Interessengruppen. Dies schließt die Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente ein.
Demokratische Entscheidungsprozesse, wie z.B. in repräsentativen Verbänden und Vereinen, stärken das Verständnis für die Politik und die Legitimierung von Entscheidungen. Wir fordern daher, diese „Demokratie im Kleinen“ durch die Einführung eines europäischen Vereinsrechts und eines damit verbundenen europäischen Gemeinnützigkeitsstatuts zu festigen, und werden die Verhandlungen zum angekündigten Kommissionsvorschlag vorantreiben. Es braucht eine systematische Stärkung der Engagementpolitik und eine umfassende Strategie der Kommission zur Unterstützung gesellschaftlicher Kräfte in Europa. Ebenso sollte die EU Projekte für Demokratieförderung und Extremismusprävention verlässlich und bedarfsorientiert fördern. Ähnlich wie das geplante Demokratiefördergesetz in Deutschland müssen die EU-Mitgliedstaaten hierfür gesetzliche Grundlagen schaffen.
Zur Erleichterung der europaweiten Verständigung und zur besseren Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der europäischen Demokratie muss sowohl in der Außenkommunikation als auch in der visuellen Außendarstellung der EU-Institutionen die europäische Sprachenvielfalt berücksichtigt werden. Beteiligungsmöglichkeiten dürfen nicht durch sprachliche Hürden behindert und entscheidungsrelevante Dokumente müssen in allen Amtssprachen der EU veröffentlicht werden.