Nachgefragt bei… Barbara Lochbihler

Mit dem Format „Nachgefragt bei“ kommen regelmäßig europapolitische Stimmen in Form eines Kurzinterviews zu Wort. Anlässlich der Einberufung in den EBD-Vorstand und Nominierung als Vizepräsidentin von Barbara Lochbihler, Vizepräsidentin des UN Ausschusses gegen das gewaltsame Verschwindenlassen (CED) und ehemalige Europaabgeordnete und Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments, steht sie uns heute im Format "Nachgefragt bei" Rede und Antwort. 

Frau Lochbihler, der Vorstand der EBD hat Sie einstimmig als Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland nominiert. Was reizt Sie an Ihrer Kandidatur und der EBD?

„Die EBD ist ein vielschichtiges und weitverzweigtes Netzwerk, mit enormer Fachkompetenz in der Europapolitik und eindeutiger pro-europäischer Ausrichtung. Gerne arbeite ich im Team, wenn die gemeinsame Grundrichtung stimmt. Ich kann unterschiedliche Sichtweisen stehen lassen und freue mich die pro-europäische Ausrichtung nach außen zu vertreten. Als ehemalige Europaabgeordnete kenne ich die EU-Institutionen und Strukturen, ebenso wie die europapolitischen Debatten in Deutschland und möchte dieses Erfahrungswissen in die Vorstandsarbeit einbringen.

Meine Zeit im Europäischen Parlament, 2009 - 2019, war geprägt von Krisen, wie der Globalen Finanzkrise, in deren Folge Griechenland nicht sicher sein konnte in der EU zu verbleiben, war zudem geprägt vom Referendum in Großbritannien über den Verbleib in der EU und dem folgenschweren Austritt, um nur einige der krisenhaften Entwicklungen zu nennen, mit denen sich die Europäische Union auseinandersetzen musste. In all diesen Krisen wurden der Nationalstaat, der Nationalismus an sich, als positive Gegenpole zur Europäischen Union regelrecht angepriesen und die EU offen in Frage gestellt. Es war oft schwierig dagegen die faktischen Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger Europas anzuführen, wie zum Beispiel die Reisefreiheit, die vereinheitlichte Verbraucherschutznormen, das gemeinsam Erreichte dieses Friedens- und Demokratieprojektes. Mir wurde überdeutlich, wie leicht es gelang für gesellschaftliche Fehlentwicklungen die EU verantwortlich zu machen, ohne auch nur im Geringsten die faktisch richtigen und positiven Entwicklungen für die Bürgerinnen und Bürger der EU zu erwähnen.

Auch wenn derzeit diese destruktiven Stimmen in der EU etwas verstummt sind, halte ich es für dringend geboten, kritisch-konstruktiv für eine Weiterentwicklung der EU zu werben. Die Unterstützung der Vorstandsarbeit der EBD würde mir die Gelegenheit geben, europapolitische Vernetzungsarbeit zu stärken und an der Weiterentwicklung des Europäischen Projektes mitzuwirken.

Die EBD verfolgt die aktuellen Entwicklungen in der EU. Sie bietet somit aus erster Hand dieMöglichkeit Einfluss zu nehmen, wenn neue Regelungen und Gesetze noch im Entstehen, in der Entwurfsphase sind. Spannend finde ich die oft sehr tiefgründigen Analysen, Studien und Gutachten, die die EU verwendet, um ihre Politik zu gestalten und die Interessierten zur Verfügung stehen. Ungleich zu den jeweiligen Mitgliedsorganisationen der EBD, die über umfassendes Fachwissen verfügen, kann ich selbstverständlich nur einen Teil dieses Wissens verwenden. Dennoch reizt es mich auf diesem Weg, Neues zu lernen und bei bekannten EU-Politikbereichen auf dem neuesten Entwicklungsstand zu bleiben. Meine inhaltlichen Schwerpunkte sind auch im Ruhestand der Schutz und die Förderung von Menschenrechten, von demokratischen Strukturen, Rechtsstaatlichkeit und Diversität. Das gilt für die lokale, nationale und internationale Ebene. Ein Engagement bei der EBD würde gezielt auch die regionale Ebene umfassen. Die EU hat sich mit ihrer ersten Menschenrechtsstrategie 2012 eine gute Grundlage gegeben, deren Fortschreibung begleitet werden sollte. Erfreulich ist auch die jüngste Ankündigung der Kommissionspräsidentin von der Leyen, beim Gipfeltreffen des Europarats in Reykjavik, die EU beabsichtige so schnell wie möglich der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten und damit auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzuerkennen.“

Werfen wir einen Blick auf unser vielfältiges Netzwerk: Wie können Wirtschaftsverbände, gemeinnützige Vereine, Gewerkschaften zur Weiterentwicklung und Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa beitragen?

„Die unterschiedlichen Verbände, Vereine, Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Gewerkschaften können ihren Mitgliedern, Mitarbeitenden, ihren spezifischen Zielgruppen wie junge Erwachsene, Wissen über Geschichte, Hintergründe und Motive der Europäischen Union zur Verfügung stellen. Wissen, nicht nur über die spezifischen Interessen und Chancen des jeweiligen Verbandes in der EU, sondern über das Entstehen, die Entwicklungen, die Schwächen und Stärken des Europäischen Projekts an sich. EU-Politik erscheint oft weit weg von der Alltagsrealität. Es ist keine leichte Aufgabe, einen Weg zu finden die vielen europa-bezogenen Bindungen und Prägungen im Alltag, erlebbar und erkennbar zu machen. Dies gilt auch für die Stärkung demokratischer Strukturen einer Gesellschaft. Parteien, Initiativen, Netzwerke, die sich zum Ziel gesetzt haben, demokratische Prozesse und Strukturen auszuhöhlen und zu zerstören, die autoritären, rechtspopulistischen, rechtsradikalen und menschenfeindlichen Ideologien anhängen, müssen klar als Gegner und Gefahr für unsere europäischen demokratischen Gesellschaften gesehen werden. Es gibt genügend didaktische Materialien, die genutzt werden können, die Entwicklungen zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, in der verbandsinternen Fortbildungs- und Bildungsarbeit einzusetzen und zu lebhaft-kritischen Diskussionen "in welchem Europa wir leben wollen" einzuladen.

Wenn Vereine und Verbände nicht nur auf deutscher Ebene organisiert sind, sondern bi-lateral oder europaweit agieren, ist der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen europäischen Ländern sinnvoll. Gemeinsam über unterschiedliche rechtsstaatliche Entwicklungen zu diskutieren, lässt sich ausdehnen auf Berufsstände wie z.B. im Justizwesen, Journalistinnen und Journalisten, Frauenrechtsgruppen, die sich gezielt mit Rückschritten und Rechtsverletzungen auseinandersetzen, um gemeinsame Gegenstrategien zu entwickeln. Es gilt, sich solidarisch zu zeigen und diejenigen zu unterstützen und den Rücken zu stärken, die die jeweiligen Regierungen zur Einhaltung und Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bewegen wollen.

Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und andere einflussreichen Akteure sollten ihre Möglichkeiten analysieren, wie sie gegenüber europäischen Regierungen auftreten, die Schritt-für-Schritt den Abbau von Rechtsstaatlichkeit, von unabhängigen Medien und demokratischen Mitwirkungsrechten vorantreiben. Auf Gesprächsebene mit Regierungsvertreterinnen und -vertretern sollten hier Wege gefunden werden, konkret die möglichen Folgen eines weiteren roll-backs bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für den eigenen Geschäftsbetrieb anzusprechen.“

Sie waren Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die Rechte von Geflüchteten im Hinblick auf die Europawahlen 2024?

„Die EU darf sich nicht nur mit dem Anspruch einer werteorientierten Politik zufriedengeben, sondern muss selbstverständlich und offen menschenrechtliche Maßstäbe an alle Bereiche des eigenen Handelns anlegen und nach deren Einhaltung und Stärkung streben.

Als der damalige EU-Kommissionspräsident Juncker 2015 im Plenum des EP die Bilder von hilfsbereiten Menschen kommentierte, die freudig und klatschend die ankommenden Flüchtlinge im Bahnhof in München begrüßten, und sie als „das schöne Gesicht Europas“ bezeichnete, wurde es mir als bayerischer Europaabgeordneter recht warm ums Herz. Juncker erinnerte anschaulich an die jeweiligen historischen Erfahrungen aller Mitgliedsstaaten und ihre eigenen Migrations- und Fluchtgeschichten: an Armutsmigration, an politische Unterdrückung, an Krieg, Vertreibung und Flucht in und aus Europa.

Dieser Rede folgte dann aber keine Harmonisierung europäischer Asylpolitik, keine ausgleichende Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU, keine Aufgabe des gescheiterten Dublin-Verfahrens. Was folgte waren ein Anstieg rassistischer, gar faschistischer politischer Parteien und Bewegungen, die die Angst vor und den Hass auf alles Fremde schüren und damit Wahlerfolge erzielten.

Es folgte der Ausbau der Militarisierung der Außengrenzen und untaugliche Deals mit Staaten wie der Türkei, um es Flüchtenden unmöglich zu machen, in die EU zu kommen oder zu bleiben. Der türkische Präsident Erdogan wurde zum privilegierten Partner in der Flüchtlingsabwehr, Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Staaten wie Äthiopien oder dem Sudan wich der Verhandlung von Rückübernahmeabkommen und gemeinsamer Grenzschutzpolitik mit deren Regierungen. Statt eine gemeinsame solidarische und humane EU-Asylpolitik zu entwickeln, die die Rechte der Schutzsuchenden - ob aus Syrien, dem Irak oder Eritrea – in den Mittelpunkt stellte und eine solidarische Umverteilung innerhalb Europas ermöglichte, wurde der Stacheldraht ausgerollt und bis heute dabei zugesehen, wie Menschen im Mittelmeer ertrinken oder auf der Balkanroute erfrieren.

Von griechischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ließ ich als Abgeordnete damals eine Studie erarbeiten, die sich mit den Auswirkungen des EU-Türkei-Deals auf die Rechte der Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge beschäftigte. Dabei ging es auch um die Umsetzung von sogenannten Fluchthotspots innerhalb der EU. Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die Verfahren und Praktiken zur Bearbeitung von Asylanträgen auf den griechischen Inseln im Rahmen der EU-Türkei-Vereinbarung das Recht der Antragstellenden auf Asyl und ein ordnungsgemäßes Verfahren verletzten. Besonders besorgniserregend war, dass der EU-Türkei-Deal und die Verfahren auf den griechischen Inseln auf der allgemeinen Annahme beruhten, dass ein Drittland als "sicher" für Asylbewerber angesehen werden könnte. Sie dienten als mögliches Modell für weitere informelle Vereinbarungen mit anderen Drittländern. Die EU-Türkei-Erklärung wurde gänzlich ohne demokratische Kontrolle angenommen, vereinbart von den Staats- und Regierungschefs der EU ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments.

Legale Wege der Arbeitsmigration oder die Einrichtung sicherer Fluchtrouten wurden und werden blockiert. Ja, man kann von einem Versagen der EU sprechen, auf globale Entwicklungen wie Migration und Flucht menschenrechtskonform zu reagieren. Die Fluchtursachenbekämpfung und die Schlepperkriminalität rückten in Brüssel ins Zentrum der Debatten, konnte aber nicht verhüllen, dass das Ziel verfolgt wurde, möglichst wenig Schutzsuchende aufzunehmen. Wer sich dennoch bis nach Europa durchschlagen konnte, sollte möglichst schnell wieder abgeschoben werden. Im Gegenzug gab es Geld und Marktzugang für Partnerstaaten. Die Leidtragenden sind in erster und zweiter Linie die Betroffenen. Spätestens an dritter Stelle aber blieb die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union auf der Strecke.

Auch wenn es der EU in den Bereichen Flucht und Migration auf dem Papier natürlich stets um den Schutz und die Einhaltung der Menschenrechte geht, ist die Realität auch heute eine andere. An den EU-Außengrenzen sind Zehntausende von Menschen allein seit der Jahrtausendwende im Mittelmeer ums Leben gekommen – auch und gerade, weil die EU-Mitgliedstaaten sich weiterhin vehement dagegen wehren, sichere Zugangswege in die EU zu schaffen. So werden auch immer wieder Berichte bekannt über illegale Zurückweisungen von potentiell Schutzbedürftigen auf hoher See und auf der Landroute, durch Frontex oder nationale Grenzschutzbehörden. Diese sogenannten Push-Backs sind ein klarer Verstoß gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU, die u.a. aus dem non-refoulement-Prinzip erwachsen und regelmäßig vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt werden. Leider geht diese menschenrechtswidrige Praxis weiter. Ein Bericht der griechischen Nationalen Menschenrechtskommission vom Juni 2022, dokumentiert systematische Verstöße der griechischen Behörden gegen die Rechtsstaatlichkeit und geltende EU-Regelungen. Hauptsächlich sind das routinemäßige rechtswidrigen Abschiebungen von Personen, die internationalen Schutz suchen. Sie dokumentieren auch die Missachtung von Gerichtsbeschlüssen und die Diskreditierung europäischer und internationaler Gremien, die für die Überwachung und den Schutz der Menschenrechte zuständig sind.

Die EU versuchte immer enger mit den Herkunfts- und Transitländern zu kooperieren, bei Grenzsicherung, Rückführungen, beim Einrichten von Auffanglagern. Dabei scheint es für die EU kein Problem darzustellen, wenn in diesen Ländern die Menschenrechte mit Füßen getreten werden – oder wenn es sich um Länder handelt, die selbst für die Flucht vieler Staatsangehöriger verantwortlich sind, wie z.B. Eritrea, Sudan oder Libyen.

Es wurde bis heute keine europäische Seenotrettungsmission geschaffen, was aus menschenrechtlicher Sicht höchst problematisch ist und es gibt bis heute keine Entscheidung zu einer Harmonisierung des Asylrechts.

Im Hinblick auf die Europawahlen 2024 braucht es eine Rückeroberung europäischer Glaubwürdigkeit insbesondere im Bereich der Flüchtlingspolitik und braucht es letztendlich auch eine eigene europäische Migrationspolitik. Dabei ist eine klare Ausrichtung an bestimmten Werten wie Solidarität, an demokratischen Grundprinzipien, an den universellen Menschenrechten unerlässlich. Die Chancen, dass dies gelingt schätze ich als gering ein, gerade mit Blick auf die jüngsten Entscheidungen der Kommission schnelle Asylverfahren an den Außengrenzen einzurichten, die die Rechte der Schutzsuchenden massiv beschneiden werden.

In vergangenen Wahlkämpfen haben rechtsradikale, rechtspopulistische Parteien in ihren Kampagnen den „Fremden“ an sich, die schutzsuchenden Flüchtlinge, die arbeitsuchenden Migranten mit nicht-weißer Hautfarbe, als die Gefahr schlechthin für ihre jeweiligen Gesellschaften dargestellt. Sie hatten Erfolg damit, diese Menschen als Sündenböcke für die ungelöste Probleme in ihren Ländern und in Europa darzustellen. Erfolg damit, den Niedergang des europäischen Abendlandes durch die bereits einsetzende Überfremdung in grellsten Farben zu zeichnen. Es kommt jetzt, wie immer, auf die vielen anderen Parteien an. Der Blick auf diese schnellen Gewinne der rassistischen und rechtsextremen Parteien, darf nicht dazu führen, sich diesen Hass auf das Fremde, diese menschenfeindlichen und Menschen verhetzenden Politiken, auch nur im Geringsten anzueignen und in den eigenen Wahlkampfstrategien zuzulassen.“

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