Der Koalitionsvertrag 2025 aus Sicht der EBD-Politik | Eine Analyse des EBD-Generalsekretärs
Berlin, 30. April 2025 - Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD aus Sicht der EBD-Politik: Eine Analyse des Generalsekretärs
Deutschland zurück in der Europaliga? Gespielt wird auf dem Platz
Am Mittwoch, dem 30. April 2025, wurde der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD nach einem erfolgreichen SPD-Mitgliedervotum beschlossen. Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz steht nun an der Spitze einer Bundesregierung, von der viel europapolitische Führungsstärke erwartet wird. Der 146-seitige Vertrag trägt den Titel „Verantwortung für Deutschland“ – und benennt die Europapolitik als zentrales Handlungsfeld.
Erfreulich ist: Der Vertrag enthält positive Impulse zur EU-Erweiterung, zur Rolle der EU als geopolitischer Akteur, zur demokratischen Rolle des Europarats und zur Haushaltsmodernisierung mit neuen Eigenmitteln. Auch die erstmals institutionalisierte de-facto-Koordination der Europapolitik im Kanzleramt stellt eine strukturelle, notwendige Weiterentwicklung dar.
Kritisch bleibt jedoch: Eine kohärente Reformagenda – etwa zur Stärkung des Europäischen Parlaments, der europäischen Demokratie oder der strukturellen Sicherung von Grundwerten – fehlt. Schengen wird nicht erwähnt – Zufall oder Absicht? Migrationspolitik wird durch Grenzpopulismus national priorisiert, zentrale Gesetzgebungsinitiativen wie der Green Deal bleiben umstritten. Auch passt der reformierte Fiskalrahmen nicht mehr in weitere erhebliche Herausforderungen an die öffentlichen Finanzen.
Das größte Netzwerk für Europapolitik in Deutschland, die Europäische Bewegung Deutschland e.V. (EBD), bündelt in seiner EBD-Politik die unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Interessen seiner Mitglieder. Die sieben Handlungsprioritäten der EBD – von Grundwerteschutz über Demokratiestärkung, Transparenz, Migration, Haushalt, Erweiterung bis hin zur Europakoordination – bilden den Maßstab dieser Analyse. Ergänzt wird dieser Fokus durch die neue Aktualität: die Verteidigung der Freiheit und der Demokratie Europas in der Welt.
Diese vorliegende Bewertung analysiert die Aussagen des Koalitionsvertrags im Licht der EBD-Prioritäten und ordnet sie in die strategischen Zielsetzungen der deutschen Europapolitik ein.
Die europäischen Werte und Grundrechte achten
EBD-Kernaussage: Das freie Europa ist eine Wertegemeinschaft. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte müssen in allen EU-Mitgliedstaaten und darüber hinaus aktiv verteidigt werden. Die Bundesregierung muss sich für konsequente Rechtsstaatsmechanismen, den Schutz der Grundrechte und die Stärkung des Europarats einsetzen.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Der Koalitionsvertrag formuliert ein klares Bekenntnis zu den Grundwerten der EU und sieht eine konsequentere Anwendung von Sanktionsmechanismen vor – etwa über Vertragsverletzungsverfahren, Kürzung von EU-Geldern und Artikel 7 EUV. Besonders die Weiterentwicklung des Konditionalitätsmechanismus und die Prüfung direkter Mittelzuweisungen an betroffene Zielgruppen, etwa Studierende, sind wichtige Ansätze.
Positiv hervorzuheben sind auch die Ankündigung, die Verhandlungen zum EU-Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) voranzutreiben, sowie die Unterstützung für den Europarat. Diese Elemente entsprechen langjährigen Forderungen der EBD.
Was jedoch fehlt, ist die Einbindung gesellschaftlicher Kräfte in das Grundrechtsmonitoring, eine Reform des Artikel-7-Verfahrens und eine über den Status quo hinausgehende institutionelle Stärkung des Grundrechtsschutzes. Auch die Verbindung zur Antirassismusstrategie, Gleichstellungsfragen oder ein Monitoring von SLAPP-Verfahren (strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung) bleibt unbeachtet.
Fazit: Der Koalitionsvertrag zeigt Fortschritte beim Schutz europäischer Grundwerte, doch bleibt er unter dem Anspruch zurück, diese systematisch, institutionell und gesellschaftlich zu verankern.
Parlamentarismus und pluralistische Demokratie stärken
EBD-Kernaussage: Die parlamentarische Demokratie in der EU muss systematisch gestärkt werden – durch mehr Rechte für das Europäische Parlament, transparente Prozesse und die Beteiligung aller politischen Ebenen, insbesondere über einen Europäischen Konvent.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Der Vertrag enthält Hinweise auf die Nutzung von Brückenklauseln sowie auf mögliche Vertragsänderungen nach Artikel 48 EUV (durch den Konvent) – ein grundsätzlich wichtiges Signal. Auch die Bereitschaft, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einzuführen, offenbart Problembewusstsein. Ziel sei es laut Koalition, den Konsenszwang nicht zum Entscheidungshemmnis werden zu lassen.
Diese Reformbereitschaft bleibt jedoch punktuell. Ein umfassendes Konzept zur institutionellen Reform der EU fehlt. Vorschläge der Konferenz zur Zukunft Europas werden nicht aufgegriffen. Die betrifft die Möglichkeit eines Initiativrechts des Europäischen Parlaments, die Einführung eines europaweiten Wahlrechts mit transnationalen Listen oder die Stärkung europäischer Parteien sowie das Spitzenkandidatenprinzip – obwohl dies in früheren Entwurfsfassungen offenbar noch vorgesehen war. Diese Auslassungen übertünchen nur mühsam das alte Spannungsfeld zwischen intergouvernemental geprägter Diplomatie und parlamentarisch ausgerichteter europäischer Mehrebenendemokratie. Man muss keinen Europäischen Bundestaat fordern, aber die supranationale Gemeinschaftmethode ist genau das, was uns derzeit in der großen Marktwirtschaft der EU mit einem ausgeprägten Sozialmodell zusammenhält.
Fazit: Einzelne Öffnungen sind zu begrüßen, doch der politische Wille zur Stärkung der gemeinschaftlichen EU-Demokratie bleibt vage. Die notwendige institutionelle Weiterentwicklung wird nicht überzeugend verfolgt.
EU-Gesetzgebung transparent gestalten
EBD-Kernaussage: Transparenz ist eine Grundvoraussetzung für demokratische Legitimation in der EU. Gesetzgebungsprozesse müssen nachvollziehbar dokumentiert, externer Einfluss offengelegt und die Rolle der Parlamente gestärkt werden. Die Bundesregierung soll sich für verbindliche Standards zur Erfassung von Interessenvertretung und ein funktionierendes ethisches Kontrollsystem einsetzen.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Der Koalitionsvertrag greift wichtige Einzelaspekte wie die Kooperation mit der neuen Europäische Behörde zur Bekämpfung der Geldwäsche (AMLA) oder Lücken im Transparenzregister auf, bleibt aber sehr vage.
Zentrale Forderungen der EBD zur Transparenz europäischer Gesetzgebungsprozesse bleiben unbeachtet: Der Trilog als intransparentes Kernelement wird ebenso wenig erwähnt wie das EuGH-Urteil zur Offenlegungspflicht von Trilogdokumenten.
Ein Bekenntnis zur aktiven Teilnahme des Ministerrates am gemeinsamen EU-Ethikgremium fehlt – trotz wiederholter Skandale und der Bedeutung dieses Instruments für die Glaubwürdigkeit der EU-Institutionen.
Der Koalitionsvertrag enthält keinerlei strategischen Ansatz zur Abwehr gezielter Einflussnahme autoritärer Drittstaaten, mittels "Strategischer Korruption". Damit verpasst die Bundesregierung die Chance, Europas Demokratie gegen systematische Unterwanderung zu wappnen.
Positiv ist der Hinweis auf Transparenzanforderungen im Zusammenhang mit dem EU-Haushalt. Doch auch hier fehlt die Verbindung zu umfassenden Transparenzstandards auf europäischer und nationaler Ebene.
Fazit: Der Vertrag erkennt die Relevanz von Transparenz an, bleibt aber strukturell und politisch hinter dem zurück, was demokratische EU-Rechtsetzung heute benötigt. Die EBD fordert: Nachvollziehbarkeit der Trilogverfahren, verpflichtende Offenlegung von Einflussnahme auch im Rat der EU, eine institutionell gestärkte Rolle des interinstitutionellen Ethikgremiums (unter Einschluss aller EU-Organe) sowie eine umfassende europäische Strategie gegen illegitime Einflussnahme und "Strategische Korruption". Gerade angesichts wiederholter Skandale ist ein transparenter Umgang mit legislativen Prozessen, Interessenvertretung und externer Einflussnahme unerlässlich für die Glaubwürdigkeit europäischer Politik.
Migrations- und Asylpolitik auf Basis europäischer Werte gestalten
EBD-Kernaussage: Die europäische Migrations- und Asylpolitik muss an den gemeinsamen Werten der EU ausgerichtet sein. Es braucht faire Verfahren, menschenrechtsbasierte Rückkehrregelungen, funktionierende Aufnahme- und Integrationsstrukturen sowie legale und sichere Einwanderungswege.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Die neue Bundesregierung setzt bei der Migration auf Begrenzung und Kontrolle. Das zeigt sich in der expliziten Ankündigung, Zurückweisungen auch bei Asylgesuchen vorzunehmen, sichere Herkunftsstaaten auszuweiten und Rückführungsabkommen zu forcieren. Das Menschenrecht auf Asyl wird hier tendenziell relativiert. Die angekündigte nationale Umsetzung der GEAS-Reform wird nicht mit einer kritischen Reflexion ihrer Grundrechtsdefizite verbunden.
Die EBD begrüßt die beschlossene GEAS-Reform als Schritt in Richtung europäischer Handlungsfähigkeit, fordert aber dringende Nachbesserungen – insbesondere zur Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention. Notwendig ist ein kohärentes Zusammenspiel von europäischer und nationaler Verantwortung.
Zentrale Forderungen der EBD bleiben unbeachtet: etwa ein klarer ressortübergreifender Ansatz zur Fluchtursachenbekämpfung, mehr legale Einwanderungswege, der Schutz der Menschenwürde an den Außengrenzen, die Beendigung der Kriminalisierung ziviler Seenotrettung sowie ein Menschenrechtsmonitoring durch die EU-Grundrechteagentur (FRA).
Positiv ist die Bezugnahme auf die Europäische Asylagentur (EUAA) und der Aufbau von Rückführungskooperationen mit Herkunftsstaaten. Doch es fehlt an menschenrechtskonformer Umsetzung. Die EBD fordert faire Verfahren auch in Schnellverfahren, klare Regeln für sichere Herkunftsstaaten und Rückkehr mit Würde. Anreize für aufnahmebereite Kommunen und uneingeschränkte Familienzusammenführung werden nicht ausreichend unterstützt.
Zur Integration enthält der Vertrag nur allgemeine Hinweise. Es fehlt ein Konzept zur Anerkennung von Qualifikationen, zum Zugang zu Sprachbildung und Arbeitsmarkt sowie zur Förderung gesellschaftlicher Teilhabe. Der Beitrag gesellschaftlicher demokratischer Kräfte, inklusive der Wirtschaft, bei der Integration wird ebenso wenig anerkannt wie ihr Engagement bei der Aufnahme und Unterstützung Geflüchteter.
Fazit: Der Koalitionsvertrag bleibt migrationspolitisch und rechtlich hochproblematisch. Symbolische Härte ersetzt praktikable Lösungen – Zurückweisungen und Grenzpopulismus wecken Erwartungen, die rechtlich nicht haltbar und politisch kontraproduktiv sind. Statt einer menschenrechtsbasierten Umsetzung der GEAS-Reform und legaler Zugangswege dominieren nationale Reflexe. Eine strategische europäische Migrationssteuerung bleibt unterbelichtet – mit gefährlichen Folgen für Glaubwürdigkeit und Rechtsstaat.
EU-Haushalt und -Fiskalrahmen zukunftsfest und demokratisch weiterentwickeln
EBD-Kernaussage: Der EU-Haushalt muss strategisch, nachhaltig und demokratisch weiterentwickelt werden. Die EU braucht ausreichend Eigenmittel, um gemeinsame Aufgaben wie Klimaschutz, Digitalisierung, Migration und Verteidigung zukunftsfest zu finanzieren. Dabei muss das Europäische Parlament eine zentrale Rolle in der Kontrolle und Prioritätensetzung behalten.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Der Koalitionsvertrag erkennt den Reformbedarf des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) ausdrücklich an. Positiv hervorzuheben ist die Absicht, den MFR einfacher, transparenter und flexibler zu gestalten. Auch die Bereitschaft zur Einführung neuer Eigenmittel sowie die Zusage, dass Deutschland einen angemessenen Beitrag leisten wird, stimmen mit EBD-Forderungen überein.
Gleichzeitig bleibt die Koalition im Detail vage. Es fehlt an einem klaren Fahrplan für ein zukunftsorientiertes, investitionsfähiges und demokratisch kontrolliertes EU-Budget. Während der Reformbedarf anerkannt wird, vermeidet der Koalitionsvertrag Festlegungen etwa wie die erst kürzlich reformierten EU-Fiskalregeln im Lichte der zusätzlichen erheblichen Bedarfe an die öffentlichen Haushalte erneut zu modifizieren wären oder zur konkreten Ausgestaltung neuer Eigenmittel. Die Rückzahlung von NextGenerationEU wird zwar erwähnt, jedoch bleibt offen, wie diese langfristig abgesichert und nachhaltig finanziert werden soll.
Auch zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Flexibilität und der Bewahrung traditioneller Haushaltsstrukturen – insbesondere im Bereich der Kohäsions- und Agrarpolitik. Der Versuch, einerseits neue Herausforderungen zu adressieren, andererseits bestehende Machtverhältnisse und Interessenlagen nicht zu gefährden, führt zu widersprüchlichen Signalen. Reformvorschläge der EU-Kommission etwa zur kohärenten Weiterentwicklung von Aufbau- und Kohäsionsinstrumenten, auch im Einklang mit der „governance“ des Covidfonds werden nicht aufgegriffen.
Der Vertrag signalisiert zwar Offenheit gegenüber den Reformvorschlägen, zeigt aber wenig Ambition für eine führende Rolle Deutschlands bei der Reform des EU-Haushalts. Besonders im Kontext wachsender Verteidigungsausgaben (auch in Strukturen außerhalb der EU), klimabedingter Transformationskosten und wachsender geopolitischer Risiken wäre mehr fiskalpolitische Ehrlichkeit nötig.
Gleichzeitig ist die Zuständigkeit für den Mehrjährigen Finanzrahmen und Fiskalpolitik in der neuen Regierung zwischen Auswärtigem Amt (CDU, Federführung), Bundesfinanzministerium (SPD) und dem de facto entscheidenden Bundeskanzleramt (CDU), fragmentiert.
Fazit: Immerhin setzt der Vertrag richtige Impulse zur Haushaltsmodernisierung. Wenn diese nun auch noch im Detail richtig umgesetzt werden, mit intelligenten Eigenmitteln, intelligenter gemeinschaftlicher parlamentarischer Kontrolle und smarten Investitionen in gemeinsame europäische Aufgaben, kann so im Bereich des EU-Haushalts viel richtig gemacht werden.
Grenzen in Europa abbauen und eine europäische Integrationslandschaft der Freiheit ermöglichen
EBD-Kernaussage: Die Freizügigkeit im Schengen-Raum ist ein Grundpfeiler der europäischen Integration. Eine proaktive EU-Erweiterungspolitik und der Schutz der Errungenschaften grenzfreier Räume gehören untrennbar zusammen. Die Bundesregierung muss Rückschritte bei Schengen revidieren und gleichzeitig Erweiterungsperspektiven konsequent voranbringen.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Der Koalitionsvertrag bekennt sich grundsätzlich zur EU-Erweiterung – weniger als politisches Ideal, mehr als geopolitische Notwendigkeit. Das klare Bekenntnis zu einem „leistungsbasierten“, schrittweisen Beitrittsprozess mit Zwischenstufen wie Beobachterstatus oder phasenweiser Integration in EU-Politiken deckt sich klar mit der EBD-Politik. Es schafft sichtbare Perspektiven, etwa für die Ukraine, Moldau und den Westbalkan und verschließt nicht endgültig die Tür für die Türkei.
Umso wichtiger ist daher das klare Bekenntnis zur EU-Erweiterung zur Stärkung des freien Europas und seines Binnenmarktes: Der Weg der Beitrittskandidatenländer in die EU muss konsequent kritisch begleitet werden – mit klaren Kriterien und realistischen Zwischenschritten wie einem Beobachterstatus im Rat der EU und im Europaparlament. Schön, dass die kommende Koalition dies auch so wahrnimmt.
Gleichzeitig bleibt die Bundesregierung zurecht vorsichtig: Sie koppelt die Erweiterung explizit an vorherige Reformen der EU und betont mehrfach die Notwendigkeit institutioneller Reformen. Damit wird eine politische Handlungsunfähigkeit der EU durch Überdehnung vermieden – allerdings besteht die Gefahr, dass dies faktisch zur Verschleppung von Beitritten führt.
Die Fortführung und Ausweitung von Grenzkontrollen an deutschen Binnengrenzen widersprechen dem europäischen Geist der Freizügigkeit und Schengen. Ein solcher Schritt steht im Gegensatz zum Ziel, Grenzen im Inneren abzubauen und gefährdet die Legitimität der EU-Freizügigkeit. Dass die EU-Kommission bei rechtswidrigen Kontrollen kein Vertragsverletzungsverfahren anstrebt, wird im Koalitionsvertrag durch Nichterwähnung billigend in Kauf genommen. Etwa 20 Millionen Menschen in Deutschland leben in Grenzregionen. Das entspricht rund einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Es widerspricht dem Koalitionsvertrag, wenn er davon spricht, dass man vernetzte und prosperierende Grenzregionen stark machen wolle.
Die Forderungen der EBD nach einer europäischen Integrationslandschaft, die auf funktionierender europäischer Öffentlichkeit, gezielten Heranführungshilfen, einem Bonus für demokratische Governance in gesellschaftlichen Gruppen und der strukturierten Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte in den Beitrittsländern basiert, bleiben unberücksichtigt. Die Rolle des Europarats, insbesondere als normativer Kompass, wird zwar positiv erwähnt, aber nicht systematisch gestärkt. Positiv hervorzuheben ist immerhin die angekündigte Unterstützung für die demokratische Dimension der Arbeit des Europarats durch seine Parlamentarische Versammlung. Als Europäische Bewegung Deutschland begrüßen wir dieses Signal, hätten uns aber eine noch deutlichere politische Stärkung dieser wichtigen Institution für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa gewünscht.
Der Vertrag zeigt zudem eine Neigung zur differenzierten Integration, etwa über Formate wie die Europäische Politische Gemeinschaft oder bilaterale Verträge mit Drittstaaten wie dem Vereinigten Königreich. Solche Initiativen bergen Potenzial, dürfen aber keine Parallelstrukturen schaffen, die den Integrationskern der EU schwächen oder supranationale Institutionen und ihre Kontrollmechanismen marginalisieren. Eine differenzierte Integration – etwa in Form eines „Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten“ – muss für alle Mitgliedstaaten offen und an demokratische Grundprinzipien gebunden bleiben.
Besorgniserregend ist die Tendenz, neue zwischenstaatliche Formate auch zur außenpolitischen Koordination zu nutzen, ohne die Europäische Kommission und das Parlament konsequent einzubinden. Diese supranationalen Institutionen müssen in allen Vorhaben mit gestärkt werden, um demokratische Legitimität, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.
Fazit: Die Bundesregierung sendet positive Signale zur Erweiterung, gefährdet aber den Schutz der Freizügigkeit im Schengen-Raum. Schengen wird bezeichnenderweise nicht erwähnt. Die Perspektive einer offenen, handlungsfähigen und rechtsbasierten Integrationslandschaft bleibt unkonkret und unvollständig.
Die EU als geopolitische Akteurin stärken
EBD-Kernaussage: Europa muss als handlungsfähige geopolitische Kraft auftreten. Dies erfordert eine glaubwürdige gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, verlässliche Partnerschaften, die Stärkung des Multilateralismus und eine europäische Stimme in der Welt.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Der Koalitionsvertrag signalisiert außen- und sicherheitspolitischen Gestaltungswillen, bleibt dabei jedoch in zentralen Punkten vage oder zu vorsichtig. Zwar wird die Rolle Deutschlands in der GASP betont und ein stärker abgestimmter EU-Außenauftritt eingefordert („Team Europe“). Auch wird eine Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der GSVP betont und eine engere Verzahnung europäischer und internationaler Instrumente angestrebt.
Die Anerkennung geopolitischer Herausforderungen – etwa durch Verweis auf eine notwendige strategische Souveränität Europas und Schlüsselbereiche wie Energiesicherheit oder Cyberabwehr – bleibt allerdings oft abstrakt. Die EU wird nicht als eigenständiger sicherheitspolitischer Akteur gedacht, sondern vielfach im Kontext weiter beschworener transatlantischer Treue. Eine europäische Armee, wie sie in früheren Koalitionsverträgen angesprochen wurde, fehlt – ebenso wie ein konsequentes Eintreten für einen EU-Sitz im Weltsicherheitsrat.
Zentrale Forderungen der EBD wie die Weiterentwicklung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ), ein Strategischer Kompass mit echter Umsetzungskraft, eine demokratisch legitimierte Verteidigungsunion sowie eine kohärente europäische Cyberstrategie bleiben unerwähnt. Auch die wirtschaftliche Dimension europäischer Souveränität – etwa eine strategische Handelspolitik als geopolitisches Instrument – wird nicht ausreichend mitgedacht.
Positiv zu vermerken sind die explizite Unterstützung eines Sondertribunals zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen sowie der Verweis auf die sicherheitspolitische Relevanz der Ukraine für Europa. Auch die Wiederbelebung multilateraler Foren wie der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) wird im Sinne der EBD Politik nicht zu stark betont.
Fazit: Der Vertrag benennt wichtige Herausforderungen und Ziele einer aktiveren EU-Außen- und Verteidigungspolitik, bleibt dabei aber deutlich hinter den Erwartungen der EBD zurück. Die notwendige Kohärenz, demokratische Legitimation und strategische Tiefe europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird nicht entfaltet. Der außenpolitische Anspruch bleibt hinter dem sicherheitspolitischen Bedarf zurück.
Deutsche Europapolitik strategischer und stringenter ausrichten
EBD-Kernaussage: Deutschland soll seine Rolle in der EU kohärent, strategisch und mit klaren Verantwortlichkeiten wahrnehmen. Die Bundesregierung muss ihre Europakoordinierung verbessern und dabei auch gesellschaftliche Expertise sowie föderale Strukturen einbeziehen und über Europäische Public Diplomacy anschlussfähig für eine vernetzte Gemeinschaftspolitik sein.
Bewertung des Koalitionsvertrags:
Noch nie benannte ein Koalitionsvertrag so deutlich die Notwendigkeit einer verbesserten Europakoordinierung innerhalb der Bundesregierung – ein begrüßenswerter Schritt, auf den die EBD über Jahre hingearbeitet hat. Künftig soll ein wöchentlicher Abstimmungsmechanismus auf Ebene der beamteten Staatssekretäre („EU-Monitoring“) unter Leitung des Kanzleramts eingerichtet werden. Ziel ist es, Ressortkonflikte frühzeitig zu erkennen und gemeinsame Positionen zu ermöglichen. Im Konfliktfall ist eine Behandlung auf Kabinettsebene vorgesehen. Damit soll auch das Phänomen der sogenannten „German Votes“ – Enthaltungen Deutschlands im EU-Rat mangels einheitlicher Linie – reduziert werden.
Die neue Struktur signalisiert eine Bereitschaft zur Verbesserung der Europapolitik. Vor allem wird das Problem des "German Vote" erkannt. Es bleibt jedoch offen, ob daraus eine tatsächlich strategische Steuerung erwächst. Ein systematisch verankerter Koalitionsausschuss für EU-Fragen ist zwar vorgesehen, doch seine Wirksamkeit bleibt abzuwarten. Eine verwaltungsrechtliche Reform, etwa durch ein neues Weisungsrecht des Kanzleramts, blieb aus. Auffällig ist, dass alle drei zentralen Koordinierungsressorts – Kanzleramt, Auswärtiges Amt und Wirtschaftsministerium – von CDU-geführten Häusern geleitet werden. Dies kann zu einer effektiven europapolitischen Steuerung führen, bedeutet aber auch eine parteipolitische Konzentration. Gleichzeitig verbleiben wichtige Einflussmöglichkeiten, etwa durch die große Europaabteilung im Bundesfinanzministerium oder dem Umstand, dass man mit dem ECOFIN Rat über einen der wirkungsmächtigsten Räte verfügt), beim Koalitionspartner.
Positiv hervorzuheben ist die Ankündigung verstärkter grenzüberschreitender Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen des Weimarer Dreiecks und des Formats „Weimar plus“. Die angestrebte Einbindung gesellschaftlicher und kultureller Akteure aus östlichen Nachbarländern steht im Einklang mit der Idee einer Europäischen Public Diplomacy, die auch nichtstaatliche Akteure einbindet.
Dennoch bleibt die Einbindung der Parlamente – Bundestag wie Bundesrat – vage. Auch der strukturierte Einbezug gesellschaftlicher Expertise in strategische EU-Entscheidungen fehlt. Kleinere Mitgliedstaaten und multilaterale Formate außerhalb des deutsch-französisch-polnischen Kontextes werden nur angedeutet.
Fazit: Die neue Bundesregierung legt den Grundstein für eine strategischere Europapolitik und erkennt zentrale Schwächen an. Ob daraus eine kohärente, partizipative und europaweit anschlussfähige Politik erwächst, bleibt offen. Eine verbindliche Gesamtstrategie ist bislang nicht erkennbar, der Koalitionsvertrag geht hier aber in eine richtige Richtung. Reibungslosere Abstimmungsprozesse sind nun Pflicht, nicht Kür. Kommt es dennoch zu zu viel „German Vote“, ist die Verantwortung glasklar.
Weitere EBD-Politik
Neben den priorisierten Handlungsfeldern enthält der Koalitionsvertrag auch zahlreiche Aussagen, die mit der sonstigen EBD-Politik in Einklang stehen und daher ergänzend gewürdigt werden sollen:
Demokratische Gesellschaft und Dialogkultur: Der Vertrag betont die Bedeutung einer offenen, demokratischen Gesellschaft und kündigt an, europäische Jugendwerke sowie Formate des demokratischen gesellschaftlichen Austauschs auszubauen. Die EBD begrüßt die Unterstützung für die Idee eines europäischen Vereinsrechts sowie die Stärkung von Formaten wie „Creative Europe“.
Strategische Kommunikation: Die Absicht, Europa „erlebbarer“ zu machen, und die Ankündigung, eine gemeinsame europäische Identität zu fördern, decken sich mit der EBD-Forderung nach einer strategisch gedachten Europäischen Public Diplomacy.
Jugend und Bildung: Die angekündigte Weiterentwicklung von Erasmus+, DiscoverEU und europäischer Jugendarbeit ist ein wichtiges Zeichen für die Teilhabe junger Menschen. Medienkompetenz und Jugendschutz sollen stärker europäisch koordiniert werden – im Einklang mit der EBD-Politik zu JugendEU.
Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung: Die geplante Umsetzung der Istanbul-Konvention, bei gleichzeitigem Bekenntnis zur VN-Resolution „Frauen, Frieden, Sicherheit“ unterstreichen zentrale Anliegen der EBD zur Geschlechtergerechtigkeit.
Demokratie und Teilhabe: Der Schutz und die Förderung einer lebendigen demokratisch engagierten Gesellschaft werden im Koalitionsvertrag hervorgehoben. Die EBD begrüßt dies ausdrücklich, mahnt jedoch an, dass die Umsetzung konkret und dauerhaft finanziell unterlegt sein muss.
Diese Punkte sind ein wichtiger Bestandteil europapolitischer Handlungsfähigkeit – auch wenn sie nicht zu den priorisierten Kapiteln der EBD zählen. Die EBD wird ihre Unterstützung für eine breite europäische Zivil- und Beteiligungskultur weiterhin einbringen und mit Blick auf diese Elemente eigene Politikangebote weiterentwickeln.
Gesamtfazit: Chancen nutzen, Versäumnisse aufholen
Der Koalitionsvertrag 2025 enthält wichtige europapolitische Fortschritte: ein klares Bekenntnis zur EU-Erweiterung, zur strukturellen Europakoordinierung, zur Rolle der EU als geopolitischer Akteur, zur Unterstützung des Europarats und zur Haushaltsmodernisierung mit neuen Eigenmitteln. Auch die erstmals institutionalisierte Koordination der Europapolitik im Kanzleramt stellt eine strukturelle Weiterentwicklung dar.
Zugleich bleiben viele der Impulse auf halber Strecke stehen: Eine konsequente Agenda zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie in der EU fehlt ebenso wie ein überzeugendes Konzept für eine transparente Gesetzgebungskultur. Der Schutz der europäischen Grundwerte wird zwar gestärkt, aber nicht institutionell vertieft. In der Migrationspolitik überwiegt eine sicherheits- und kontrollorientierte Logik, während ein wertebasierter, menschenrechtlicher Ansatz zu wenig Raum erhält. Schengen wird nicht direkt erwähnt, jedoch mehrere Maßnahmen mit indirekten Auswirkungen. Die geplante Fortsetzung der Binnengrenzkontrollen und nationale Rückführungsregelungen stehen im Widerspruch zum Grundgedanken der Freizügigkeit in der EU. Bei zentralen Gesetzgebungsinitiativen wie etwa dem Green Deal bleibt offen, wie zusätzliche öffentliche Bedarfe sich in den reformierten EU-Fiskalrahmen einfügen.
Auffällig ist zudem die fehlende kritische Auseinandersetzung mit der politischen Instabilität in den USA. Trotz des klaren Bekenntnisses zur transatlantischen Partnerschaft fehlt eine strategische Neubewertung. Eine stärkere Betonung europäischer Eigenständigkeit wäre dringend geboten – nicht nur zur Wahrung eigener Werte, sondern auch zur Sicherung von Frieden und Handlungsfähigkeit in Europa.
Die EBD wird die Umsetzung des Koalitionsvertrags konstruktiv begleiten: dort, wo Fortschritte realisiert werden können – und kritisch einfordern, wo Reformen ausbleiben. Wer die strategische Handlungsfähigkeit Europas sichern will, muss jetzt mutig, demokratisch und kohärent europäisch handeln.